Franziska Schutzbach
Das Dilemma von Sorgearbeit und einem selbstbestimmten Alltag hat sich für Mütter in der Pandemie noch verschärft. Ausgehend von Die Wut, die bleibt teilt Franziska Schutzbach (Geschlechterforscherin und Autorin) in einem Brief an die Autorin Mareike Fallwickl ihre Gedanken dazu, warum es so schwer ist, Sorgearbeit zu bestreiken, und was weiblicher Aufstand bewirken kann.
Liebe Mareike,
bei deinen Lesungen betonst du immer wieder, wie bezeichnend du es findest, wenn gesagt wird, es wäre „radikal“, wenn in einem Buch eine Frau, zudem eine Mutter von drei Kindern, Suizid begeht. Wo doch weibliche Leichen in unserer Erzählkultur normalerweise überhaupt kein Problem sind: die Zerstückelung von Frauen, ihre Vergewaltigung und Schändung … all das kennen wir, lesen wir — tote Frauen kommen ständig vor. Aber der selbst gewählte Tod einer Mutter? Aus Erschöpfung? Warum stößt das auf so viel Abwehr und Empörung?
Das ist die Frage, und wir beide kennen die Antwort: Eine Mutter hat sich nicht zu entziehen, eher soll sie sich zugrunde arbeiten, für andere, für die Kinder, für die Familie. Wie kann sie ihren Tod ihren Liebsten, ihren Kindern antun? Studien zu Suizid zeigen: Mehr Männer nehmen sich das Leben, während mehr Frauen versuchen, sich das Leben zu nehmen, also eher Methoden wählen, die nicht zuverlässig zum Tod führen. Männer reagieren auf psychische Probleme radikaler und selbstdestruktiver, unter anderem deshalb, weil Schwäche, Krankheit und Verzweiflung mit dem männlichen Selbstverständnis nicht vereinbar sind. Zudem fällt es ihnen aufgrund von traditionellen Männlichkeitsvorstellungen offenbar auch schwerer, Hilfe zu suchen, sich anderen anzuvertrauen. Dass Männer den Suizid eher vollziehen, heißt nicht, dass suizidale Frauen weniger verzweifelt sind, sie suchen sich einfach eher Hilfe und lassen sich eher helfen. Zudem haben sie mehr Gewissensbisse, mehr Hemmungen, ihren Tod wirklich umzusetzen — und ihn anderen, der Familie, dem Freundeskreis tatsächlich zuzumuten. Selbst angesichts großer Verzweiflung versuchen Frauen, Erwartungen anderer gerecht zu werden. Frauen haben in ihrer tiefsten Verzweiflung trotzdem oft die Konsequenzen ihres Todes für andere im Kopf, etwa für ihre Kinder, Familie, Freunde. Es ist ihnen klar, dass es sich für sie eigentlich „nicht gehört“, sich mit einer unumkehrbaren Tat aus allem zurückzuziehen, die anderen leidend zurückzulassen.
Nein, sowas machen Frauen nicht.
Aber du, liebe Mareike, du machst das mit einer deiner Figuren. Helene, Mutter von drei Kindern, Ehefrau, springt vom Balkon. Sie kann nicht mehr. Als die Familie am Tisch sitzt und der Mann nach dem Salz fragt, ohne auf die Idee zu kommen, selber aufzustehen und es sich zu holen, läuft etwas in Helene über. Das pausenlose Da-sein für die Bedürfnisse anderer, seit Monaten, Jahren. Und jetzt ist auch noch Corona, die Kitas und Schulen sind zu. Sie ist am Ende.
Dein Buch beginnt mit einer Provokation: eine Frau, die sich selbst und ihre Mutterverantwortung über die Balkonbrüstung wirft. Von dieser Lücke aus erzählst du deine Geschichte. Was passiert, wenn eine Mutter in einer Familie vollständig durch ihren selbst gewählten Tod ausfällt? Zunächst passiert das, was meistens passiert, oder jedenfalls oft: Es sind sofort alle möglichen Frauen da, die aushelfen, Dinge übernehmen, Freundinnen, Schwiegermütter, älteste Töchter. Es ist klar, dass Helenes Tod eine riesige Lücke hinterlässt, ein Mann allein mit drei Kindern, wie soll das gehen?! Auf die Emsigkeit der Frauen ist Verlass.
Deine Erzählung erwischt uns kalt, denn sie stellt auch die Frage: Wie wäre es umgekehrt? Was, wenn der Mann ausgefallen wäre? Stünde dann ein verlässliches Netz an Männern auf der Matte, um auszuhelfen? Vermutlich nicht. Aber vermutlich wären auch die Frauen weniger aufopferungsvoll. Weil Frauen von anderen Frauen erwarten – wie sie es schließlich auch von sich selbst erwarten –, dass die das schon schaffen. Eine Frau, die ihren Mann verliert, wird allein mit drei Kindern irgendwie klarkommen, richtig? Frauen haben den Ausfall von Männern immer irgendwie schaffen müssen, sei es während Kriegen, nach deren Tod oder nach einer Scheidung, sei es, wenn die Männer mal wieder ihre Berufstätigkeit oder ihr Hobby priorisierten – die Abwesenheit der Männer bei der Haus- und Familienarbeit ist normal, und diese Abwesenheit aufzufangen, das ist, wofür Frauen schließlich da sind, oder?
Wäre der Mann ausgefallen, wäre die Geschichte schnell erzählt gewesen, dann hätte die zurückbleibende Frau es alleine hinbekommen. Hinbekommen müssen. Ende der Geschichte. Sie hätte die doppelte Belastung von Beruf und Kinderversorgung gemanagt, schließlich gibt es viele alleinerziehende Mütter. Aber ein Mann allein mit drei Kindern, nach dem Suizid seiner Frau? Die Lücke, die sich hier auftut, ist klaffend, und du beschreibst sie klaffend. Zum Beispiel, wenn Sarah, die beste Freundin der toten Helene, mit einem Kuchen bei der trauernden Familie vorbeikommt:
Die Aufzugtür öffnet sich, alle drei Kinder schauen sie an. Sarah hält den Kuchen vor sich wie eine Trostspende, die er ist. Johannes lehnt am Türrahmen, in seinem Blick flammt Erleichterung auf. „Ich habe gebacken“, sagt Sarah und registriert in Sekundenschnelle die Details. Den blauen Fleck auf Lolas Stirn und ihre kaputt gebissenen Lippen, dass Maxi seinen Pullover verkehrt herum anhat und Lucius sich die Augen reibt, bestimmt hat er mittags nicht geschlafen. Wie sie da stehen zu viert, macht für Sarah umso deutlicher, dass sie nicht vollständig sind. Dass eine Abwesenheit zwischen ihnen ist. (Die Wut, die bleibt, S. 28).
Diese Leerstelle nutzt du, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, du leuchtest jene Ecken des Lebens aus, die so oft unbenannt sind, für die es so selten eine Sprache gibt, weil es sich um sogenannte „Frauenbereiche“ oder „Frauenthemen“ handelt. Bereiche, die nicht von großen Helden, Siegen und Niederlagen erzählen, sondern davon, das alltägliche Leben zu bestehen. Dreck wegzuwischen, auch den muffigen Haarschlamm im Abfluss, Bettwäsche wechseln, Brösel aus der Couchpolsterung herauspulen, Kindern hinterherrennen, ein offenes Ohr haben; davon, den hochkomplexen Familienalltag zu planen, von der Care-Arbeit, von der radikalen Pausenlosigkeit der Frauenleben. Du bringst Sarah, Helenes beste Freundin, in die Familie, in die Lücke. Eine Frau um die 40, ohne Kinder. Sarah ist Krimi-Autorin, unabhängig, sie lebt in einem Haus, seit Kurzem mit einem attraktiven jüngeren Mann (Leon), den sie via Tinder kennengelernt hat. Sie ist von seiner Zuwendung geschmeichelt, es wird aber bald klar, dass er sich bei ihr einnistet und von dem gemachten Nest profitiert.
Sarah organisiert zum Beispiel den Kindergeburtstag für den 6-jährigen Maxi und ist sofort von dieser alles bestimmenden Frage aufgesogen, die über allen Müttern schwebt: Habe ich alles richtig gemacht? Die Ideologie der „guten Mutter“ enthält immer schon die Idee des Scheiterns und der Schuld, nicht gut genug zu sein. Die Mutterfigur wird als Quelle von Fürsorge idealisiert, aufs Podest gehoben, andererseits wird sie damit auch zur Projektionsfläche für Schuldzuschreibung und Beschämung: Wenn alles von der „guten Mutter“ abhängt, ist sie auch an allem schuld, das schiefläuft.
Sarah übernimmt Helens Platz für einige Wochen, springt ein, lernt nach und nach diesen dauerbeanspruchenden Alltag kennen, versteht, warum eine Frau daran verzweifeln kann. Warum Muttersein so erschöpfend ist in einer Gesellschaft, die der Care-Arbeit gegenüber maximal ausbeuterisch ist. Ein System, das nur die profitorientierte Arbeit als wertvoll betrachtet, während Care-Arbeit als Gratisressource in den privaten Raum ausgelagert wird und in den vorherrschenden Volkswirtschaftslehren bis heute als „außerökonomisch“ beschrieben wird. Als Arbeit, die nicht zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt (obwohl das Gegenteil wahr ist: Wenn keine Kinder geboren, großgezogen und versorgt werden, wird es so etwas wie ein Bruttoinlandsprodukt überhaupt nicht geben).
Du, Mareike, erzählst hier einerseits von Frauensolidarität, denn ja, das ist auch eine wichtige Kompetenz, das sind die wertvollen Güter, die Frauen geben: Dass sie einspringen und helfen, wenn es das braucht. Es ist gut, dass Frauen Sorgenotstände auffangen. Die Ausrichtung an den Bedürfnissen der Menschen, an Kooperation und Solidarität — und nicht an Macht, Profiten und Wettbewerb –, ist das, was das Leben lebenswert macht, was uns menschlich macht. Wir sollten daran festhalten, Frauen sollten es sich nicht abtrainieren. Männer sollten es sich vielmehr endlich antrainieren.
Andererseits erzählst du aber vom Dilemma dieser Unterstützung, dieser Art Frauenbeziehungen, die den Ausfall der anderen auffangen — und damit auch diese ganze patriarchale Misere reproduzieren: Weil damit die Männer wiederum entlastet werden, sodass sie am Ende an ihren Biografien und Lebensweisen und Entwürfen nichts verändern. Nichts verändern müssen. Frauen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten an die Männerwelt angeglichen, sie sind in die Berufe, in die Politik eingestiegen, haben Geld verdient und Ausbildungen absolviert, sie haben sich für den Wettbewerb und den Arbeitsmarkt fit gemacht. Sie haben ihre Biografien flexibilisiert, unglaubliche Mehrfachbelastungen auf sich genommen. Während die Männer sich — mit wenigen Ausnahmen — kaum verändert haben. Sie sind noch nicht mal ein klein wenig „wie die Frauen“ geworden. Insgesamt haben sie an ihren Vollzeiterwerbsarbeitsbiografien festgehalten und sich aus der Familienarbeit herausgehalten. Mutter werden bedeutet zum Beispiel für Frauen in Deutschland heute, dass sie durchschnittlich 62 Prozent weniger Lebenseinkommen haben als Männer. Auf das Einkommen der Männer wirken sich Kinder so gut wie nicht aus.
Wir müssen präzise analysieren, wie und warum Frauen so sehr in eine vulnerable Position geraten, wenn sie Sorgeverantwortung übernehmen. Einer der Gründe ist, dass Sorgeverantwortung sowohl erfüllend wie auch erschöpfend ist und dass sich Frauen durch diese Verantwortung in komplexen Abhängigkeitsgefügen befinden, die sie nicht einfach bestreiken oder verlassen können. Du beschreibst in Die Wut, die bleibt genau dieses Dilemma mehrfach:
Noch sechs Stunden, bis Johannes kommt. Viereinhalb Stunden, bis Lola aushat. Noch drei, noch zwei. Und dazwischen schiebt sich die Zärtlichkeit. Wie Maxi sich mit geschlossenen Augen an Sarah kuschelt, die Arme um ihren Hals gelegt, auf ihren Herzschlag horchend, als brauche er ihre Energie, um gesund zu werden. Wie Lucius ihr mit Überschwang ein Bussi auf die Wange drückt, krähend vor Fröhlichkeit, er lacht sie an, ganz nah vor ihrem Gesicht. Alles am Kinderhüten ist körperlich. Wohin Sarah auch geht, Lucius folgt ihr, klammert sich an ihr Bein, nimmt ihre Hand, sucht den Kontakt […]. Erst spät am Abend, als Sarah allein draußen steht vor ihrem Fahrrad, als sie sich ablösen hat lassen von Johannes […], platzt das Weinen aus ihr […]. Sie muss die Arme um sich schlingen, sich selbst umarmen, um zu spüren, dass sie eine Grenze hat, eine fühlbare Körpergrenze, die niemand überschreiten darf. Eine derartige Belagerung, eine solche Ausweglosigkeit hat sie noch nie gefühlt […]. Die Berührungsbedürftigkeit der Kinder hat etwas verstörend Invasives und ist gleichzeitig so entwaffnend, dass man sich ihr nicht verweigern kann. Weil jedes Wegschubsen einen feinen Riss hinterlässt auf der Kinderseele. (S. 105)
Diese „Ausweglosigkeit“ bearbeitet auch Birgit Birnbacher in ihrem Roman Wovon wir leben: Die Protagonistin Julia, um die 40 Jahre alt, kommt in ihr Dorf zurück, sie ist krank und kann ihren Beruf nicht weiter ausüben, sie braucht eine Pause und möchte sich in ihrem Elternhaus eine Weile erholen. Allerdings findet sie eine veränderte Situation: Wie in deiner Geschichte, Mareike, ist eine Lücke entstanden, die Mutter hat Haus und Dorf verlassen, sie ist abgehauen, hat ein neues Leben begonnen, Vater und Bruder sind allein. Birnbachers Roman ist eine Auseinandersetzung mit der Tochterrolle, eine Geschichte des Haderns: Darf sie als Tochter in dieser Situation überhaupt beanspruchen, dass eigentlich sie diejenige ist, die Unterstützung und Umsorgung braucht? Oder soll sie – trotz ihres desolaten Zustandes – die Rolle der Mutter übernehmen, die Suppe kochen, das Haus in Ordnung halten, für ein Minimum an Gemütlichkeit und Hygiene sorgen, sich um die gesundheitlichen Probleme des Vaters kümmern, den behinderten Bruder versorgen?
Töchter fühlen sich bei sozialen Belangen angesprochen, weil sie erzogen werden, sich darin immer angesprochen zu fühlen. Sie wurden dazu ausgebildet. Nehmen sie diese Aufgabe nicht an, wird es ihnen angelastet. In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich auch Birnbachers Figur Julia: Was, wenn sie sich den Erwartungen des patriarchal gestrickten Dorfes und des Vaters entzieht? Es wird ihr nicht nur übel genommen, sondern: Wenn sie nicht hilft, muss der Bruder ins Heim, verwahrlost der Vater, gibt es kein frisches Brot. Die Patriarchen sind eben auch schwach, sie sind bedürftig, alkoholkrank, spielsüchtig, gewalttätig und zugleich hilflos in ihrer Männlichkeit. Es sind Männer, die Leid, Gewalt und Vernachlässigung erfahren haben, das Patriarchat richtet auch die Männer zugrunde. Sie verletzen sich, gehen rücksichtslos auch mit sich selbst um, sie können nicht über Gefühle reden, ohne Frauen fallen die Rituale aus, die gemeinschaftsstiftend sind, ohne Frauen fällt die Liebe aus.
Julia weiß, dass es Leid verursachen wird, wenn sie wieder weggeht. Darf sie den Bruder ins Heim bringen? Kann sie den manipulativen Vater, der sich mit der Axt verletzt hat – womöglich sogar mit Absicht, um sie zu halten –, nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus sich selber überlassen? Es ist eine grausame Erzählung aber sie ist gleichzeitig auch voller Liebe, Zärtlichkeit und Mitgefühl. Genau das ist das Dilemma. Frauen sind in ihren Sorgeverstrickungen, das heißt mit den Männern, mit denen sie leben oder verbunden sind, in einer oft widersprüchlichen Situation, weil diese Männer sie auch lieben, weil sie diese Männer lieben und ihre Verletzlichkeit mitbekommen. Das ist auch der Grund, warum viele Frauen oft so lange in gewalttätigen Beziehungen bleiben. Weil der Täter nicht selten ihr Geliebter ist, ihr Bruder oder Vater, weil auch ein Täter nicht immer ein Täter ist, weil es auch mit einem Täter gute und liebevolle Momente geben kann. Und weil die Täter selbst oft Opfer sind, vernachlässigt oder geschlagen wurden.
Frauen sind in ihren Sorgeverstrickungen nicht in einem „Arbeitsverhältnis“, das einfach bestreikt oder gekündigt werden könnte, in dem sie den Personalrat informieren oder zur Gewerkschaft gehen könnten. Auch du beleuchtest diese Dilemmata in Die Wut, die bleibt. Sarah hat sich der Kinder von Helene angenommen. Aber es ist ihr irgendwann zu viel, die Situation wächst ihr über den Kopf. Theoretisch könnte sie zum Vater sagen: Das war’s, jetzt musst du selbst weiterschauen. Sie ist nicht verpflichtet, als Freundin diesen Job zu machen. Aber die Kinder lieben sie, sie fühlen sich bei ihr aufgehoben, es hat sich eine Beziehung entwickelt, Sarah ersetzt ein klein wenig die Mutter. Man müsste ein Herz aus Stein haben, jetzt einfach wieder auszusteigen. In deiner Erzählung fühlt man mit den Kindern, mit der Not, mit der Traurigkeit dieser Familie, man ist froh, so froh, dass Sarah da ist. Ich kann nicht abstreiten, dass ich erleichtert bin über Sarahs Präsenz. Sarah in dieser Familie, Julia in ihrem Dorf. Ich ertappe mich dabei, wie ich diese Frauen innerlich an „den Herd“ binde, ihnen zurufe, sich zu kümmern, diese Sorgenotstände aufzufangen, sie anflehe, doch bitte etwas zu tun!
Dein Buch bringt es unbarmherzig auf den Punkt: dass die Revolution, dass der Aufstand der Frauen, so sehr wir theoretisch dafür sind, in der Praxis schwer sein wird. Weil wir unsere Kinder, unsere Freundinnen, unsere Familien nicht im Stich lassen wollen. Oder auch die Patient:innen in einem Krankenhaus nicht. Es ist ja kein Zufall, dass Streiks in Pflegeberufen so selten sind, wer lässt schon die ihr anvertrauten Patient:innen einfach liegen?
Du lässt Helene, Mutter von drei Kindern, vom Balkon springen. Damit führst du uns vor Augen, wie schier unmöglich eben ein „normaler“ Streik tatsächlich ist. Helenes Suizid sagt: Es gibt für Frauen in Sorgeverantwortung nicht viele Handlungsoptionen.
Mütter haben keine Lobby.
Die dunkle Seite der Gerechtigkeit
So sehr die Müttergeneration in deiner Erzählung in ihren Rollen gefangen ist, so radikal fällt der Aufstand der jüngeren Generation aus. In der zweiten Hälfte deiner Erzählung steigert sich das Tempo, weil jetzt Lola ins Zentrum rückt. Lola ist die älteste Tochter der verstorbenen Helene, sie ist 15 Jahre alt, und sie ist wütend. Sie ist die feministische Stimme in diesem Buch, kampfbereit. Ein Mädchen, das liest, queere Freund:innen hat, Skateboard fährt und zum Boxen geht. Sie und ihre Freund:innen Sunny, Alva und Femme stemmen Gewichte, dreschen auf Boxsäcke ein, üben, wie man sich auch dann wehrt, wenn das Gegenüber ein Messer hat. Sie machen Liegestütze, essen Bananen, Kartoffeln, Nudeln, Pizza und Linsen, sie wollen Muskelmasse aufbauen, um sich wehren zu können, wenn es wieder einmal nötig ist. Lolas erklärtes Ziel ist es, so zu sein, wie „niemand sie haben will“.
Lola geht in den Aufstand, den ihre Mutter nicht starten konnte, sie ist eine Art Rächerin ihrer Mutter, aber auch eine Rächerin aller Frauen und queeren Menschen. Sie hat eine herrschaftskritische Perspektive und erzieht dabei auch Sarah, die helfende Freundin ihrer Mutter, zu einer feministischen Sicht. Etwa, wenn sie Sarah vorwirft, dass in ihren Krimis zu viele Frauen umgebracht werden, oder sie darüber aufklärt, was Fatshaming ist. Lola sagt Dinge wie: „Meine Mutter hat sich umgebracht, und ich glaube, sie ist nicht am Muttersein gescheitert. Sondern am System“. Am Ende retten Lola und ihre feministische Schlägertruppe Sarah vor ihrem übergriffigen Freund.
Nach und nach wird die Gang zu einer antipatriarchalen Kampftruppe, sie rächt sich am Ex-Freund von Femme. Er hat ihr einen dreckigen Holzstecken in die Vagina gesteckt, sie gewürgt und ihr seinen Schwanz in den Mund gezwungen. Femme ist schwer traumatisiert, hat keine Unterstützung von ihrem Umfeld und eine Anzeige scheint aussichtslos („man wird mir nicht glauben“). Also übernehmen die Mädchen die Bestrafung selbst. Die Gang verübt weitere Racheakte an gewalttätigen Männern in ihrer Gegend. Sie werden zu einem Schwarm, sammeln die Geschichten und Informationen der Frauen ihrer Umgebung, wie und von wem sie belästigt, geschlagen, vergewaltigt wurden. Und sie machen sich auf, überraschen die Männer beim Joggen, in deren Wohnungen und Gärten. Es gibt kein Pardon. „Die Kraft in ihrem Faustschlag ist die Wut aller Frauen der Welt.“
Du versetzt uns Leser:innen mit diesen Rachefeldzügen in eine Stimmung, die schwer auszuhalten ist: Darf man das? Darf man diese Rachegelüste (mit)fühlen? Diese Lust am Zurückschlagen? Darf man das als Frau? Du erlaubst es uns.
Bei der Lektüre fiel mir Valerie Solanas ein, die lesbische Aktivistin, die auf Andy Warhol schoss und das SCUM Manifesto zur Vernichtung der Männer verfasste. Solanas’ Handeln und Wirken sprengte den Rahmen all dessen, was gute Frauen tun. In ihrem Manifest rief sie die Frauen dazu auf, das männliche Geschlecht zu vernichten:
Das Leben in dieser Gesellschaft ist ein einziger Stumpfsinn, kein Aspekt der Gesellschaft vermag die Frau zu interessieren, daher bleibt den aufgeklärten, verantwortungsbewussten […] Frauen nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, die umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten.
Ist das Kunst? Darf sie das, sich den Untergang, den Tod aller Männer wünschen? Valerie Solanas wurde schnell zum Sinnbild dessen, was der Mainstream mit einer „Radikalfeministin“ assoziiert: eine „Lesbenschlampe“ in männlichem Outfit, eine Männerhasserin und Mörderin. In patriarchaler Lesart eine Frau ohne „Anstand“. Frauen dürfen die Verhältnisse nicht einfach umkehren und die Position der Männer beanspruchen, zu wilden Amazonen werden, zu bewaffneten Truppen. Sie sollen nicht beanspruchen, was den Männern gehört. Und haben wir nicht immer brav behauptet, wir wollten gar nicht die Macht, sondern Gleichberechtigung? Haben wir nicht immerzu beschwichtigend beteuert, wir würden nicht die Verhältnisse umkehren? Es gibt diesen Spruch: Ihr könnt froh sein, dass die Frauen nur Gleichberechtigung und keine Rache wollen.
In deiner Erzählung haben Lola und ihre Freund:innen genug davon, auf die Gunst der Gleichberechtigung zu warten. Sie haben genug davon, dass die Gewalt der Männer nicht ernsthaft bekämpft wird, sie haben genug von den Femiziden (im europäischen Vergleich ist Österreich im Spitzenfeld jährlicher Femizide), sie wollen nicht darauf warten, bis die Täter endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Sie nehmen die Dinge selbst in die Hand. Ihr Ziel: Angst und Schrecken verbreiten, sodass keiner sich je mehr traut, eine Frau schlecht zu behandeln. Es ist eine Fantasie. Und sie tut gut.
Wo, wenn nicht in der Literatur, in der Kunst, können wir Rachegelüste ausleben? Wir kennen die Rache als Ermächtigung der Unterdrückten aus der jüdischen Kultur; die israelische Historikerin Dina Porat zum Beispiel präsentiert die Geschichte von 50 jungen Frauen und Männern, die als Untergrundkämpfer:innen in Osteuropa die Shoah überlebten und nach dem Krieg beschlossen, sechs Millionen Deutsche zu töten. Wir kennen Rachemotive aus der Literatur der Sklaven. Und es gibt sie in der feministischen Variante. Rache löst enormes Unbehagen aus, denn die Moderne nimmt für sich in Anspruch, die Rache zivilisatorisch überwunden zu haben. Seit der Aufklärung gilt die Rache nicht nur als Gegenspielerin des Rechts, sondern überhaupt als das dunkle Andere der Moderne. Der Philosoph Fabian Bernhardt zeigt in seinem Buch Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne, wie mit der Delegitimierung der Rache eine Verdrängung einherging; verkannt wird die Rolle, die der Wunsch nach Vergeltung in den modernen Gesellschaften uneingestanden nach wie vor spielt. In der Rache scheint nicht nur die dunkle Seite der Gerechtigkeit auf, in ihr melden sich auch diejenigen verdrängten Energien und Affekte zurück, für die es in der modernen Gegenwart keinen legitimen Platz mehr zu geben scheint.
Rache, Hass und Wut sind Emotionen, die bei vielen Menschen auch mit jahrhundertelanger Gewalterfahrung zu tun haben. Darüber, liebe Mareike, ermöglicht dein Buch ein Gespräch. Den Opfernarrativen, der Erschöpfung und der Verzweiflung setzt du eine Ermächtigung entgegen. Die Fantasie der Rache ist ein Gefühl der Ermächtigung für diejenigen, die in ihrem Handeln und Sprechen stark eingeschränkt werden. Die Mädchen in deinem Buch rächen sich aber nicht nur, ihr Handeln ist mehr als reine Vergeltung und Vernichtungswut. Lola und ihre Gang richten sich — und das ist das wahrlich Revolutionäre in deinem Buch – gegen die Beruhigung und gegen die Ablenkung. Wie Solanas es damals schon formulierte: Die Beruhigung ist ein Trick des Systems, deshalb müssen wir „unserem Wunsch dazuzugehören misstrauen“. Im Gedanken der Rache steckt die Ablehnung, sich zu arrangieren, die Weigerung, mit der Unterdrückung zu kooperieren.
Es ist eine Auflehnung gegen diese immerzu an Frauen herangetragene Aufforderung, sie sollten nicht zu konfrontativ sein, nicht spalten, nicht die Männer vergraulen, sondern sich mit ihnen gemeinsam für Gleichstellung einsetzen. Dein Buch macht ein anderes Statement: Wir müssen Spaltung in Kauf nehmen, wir können uns nicht vor der direkten Konfrontation mit Männern drücken, denn: Die Spaltung ist so oder so schon da. Etwas salopp ausgedrückt: Schlimmer kann es ohnehin nicht werden, die Spaltung wurde verursacht durch männliche Gewalt, Vormacht oder Gleichgültigkeit, dadurch etwa, dass Vergewaltigung in der Ehe in den deutschsprachigen Ländern erst seit rund 20 Jahren strafbar ist. Die Spaltung wird bis heute von Männern verursacht, weil in Österreich immer noch jede dritte Frau Opfer von Gewalt wird, weil die Femizide sogar steigen, weil Vergewaltigung nur selten verurteilt wird oder weil Frauen im Alter verarmt sind, weil sie so viel unbezahlte Care-Arbeit leisten. Dein Buch rüttelt an dem Glauben, Frauen müssten bloß nett sein, dann bekämen sie schon ihre Gleichberechtigung. Die Rache dieser jungen Frauen ist eine Aufforderung, sich auf keinen Fall mit den bestehenden Verhältnissen zu arrangieren.
Die vier jungen Frauen tun aber noch etwas anderes: Sie bauen eine tragende Freundschaft auf, ein Netz der Solidarität, das auch eine alternative Welt zu der Gesellschaft darstellt, in der sie normalerweise leben müssen. Sie bauen etwas auf, das stärker ist, eine eigene Struktur. Auf diese Weise enthält dein Buch viel mehr als das langweilige Angebot der Gleichberechtigung, „wie die Männer werden zu können“. In der Rache und der Zerstörung lässt du etwas Neues entstehen. Lolas feministische Mädchengang bildet ein selbstorganisiertes solidarisches System, in dem Frauen und queere Menschen sich zusammentun und eine eigene Welt aufbauen, in der sie ein neues Zusammensein üben, sich ein Zuhause schaffen.
Mit diesem Gefühl der Hoffnung hielt ich damals bei den letzten Sätzen dein Buch in meinen Händen und fühlte mich durch das Handeln dieser jungen Frauen in meinen eigenen Gedanken bestärkt: Vielleicht sollten wir in unseren emanzipatorischen Bemühungen endlich damit aufhören, den Fokus darauf zu legen, in der Männergesellschaft Achtung, Aufmerksamkeit, Geld oder Rechte zu bekommen, und uns eher etwas von deiner selbstorganisierten Mädchengang abschauen. Die patriarchale Gesellschaft lässt sich vermutlich nicht von innen heraus verändern. Wir haben zu lange versucht, uns Plätze dort zu sichern. Vielleicht sollten wir uns wieder mehr darauf konzentrieren, uns selbst zu organisieren und von dort aus die Welt zu verändern. Nur wenn es Gegenentwürfe gibt, und seien sie noch so klein, kann es Veränderung geben. Dein Buch, liebe Mareike, ist ein Gegenentwurf. Ein großer. Danke.
Franziska Schutzbach ist promovierte Geschlechterforscherin und Soziologin, Publizistin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei, seither ist sie eine bekannte und gefragte feministische Stimme auch über die Schweiz hinaus. 2021 erschien ihr Buch Die Erschöpfung der Frauen, das zu einem Bestseller wurde. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterthemen wie Misogynie und Sexismus, darüber hinaus befasst sie sich mit den Kommunikationsstrategien von Rechtspopulisten.