Wer singt eigentlich aus welchen Gründen welche Rolle? Wie Rollenbesetzungen in der Oper funktionieren – kurz erklärt am Beispiel The Turn of the Screw.

 

Die Staatsoper Hannover ist ein Ensembletheater und ein Repertoirehaus. Momentan sind 36 Sänger*innen fest angestellt, nur wenige Gastkünstler*innen werden für besondere Partien zusätzlich engagiert. Dieses Ensembleprinzip gibt es fast nur im deutschsprachigen Raum. Überall sonst in der Opernwelt werden Produktionen ausschließlich aus Gastsänger*innen zusammengestellt und im Stagione-Prinzip gespielt. (Zur Erklärung: Das Repertoire hält viele Stücke und Wiederaufnahmen über Jahre im Spielplan, im Stagione-Prinzip werden Neuproduktionen einzeln als Aufführungsserie gespielt und dann abgesetzt.)

 

Das Ensemble der Staatsoper Hannover ist international, multikulturell und setzt sich aus 18 verschiedenen Nationen zusammen. Unsere Künstler*innen kommen nicht nur aus vielen europäischen Ländern, sondern auch aus Südafrika, Indien, Armenien, Georgien, Usbekistan, China, Südkorea, Argentinien, Mexiko und den USA. Darunter sind selbstverständlich auch People of Color.

 

Wir haben die Verpflichtung, alle diese Sänger*innen angemessen zu beschäftigen (mindestens zwei Premieren, mindestens 25 Vorstellungen pro Spielzeit). Anders als im Sprechtheater ist jede Opernpartie, jede Rolle in einer Oper auf eine bestimmte Stimmlage festgelegt (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass, Countertenor). Viele Rollen verlangen zur Stimmlage zudem ein dezidiertes Stimmfach, zum Beispiel einen hohen, dramatischen Koloratursopran für die Königin der Nacht in Mozarts Die Zauberflöte.

 

Wir haben eine Reihe von BPoC-Künstler*innen im Ensemble (BPoC = Schwarze und People of Color). Einer der BPoC-Sänger in unserem Ensemble ist der südafrikanische Tenor Sunnyboy Dladla. Vom Stimmfach her ist er ein hoher lyrischer Tenor mit sehr guter Koloratur, prädestiniert für die Tenorpartien in den Opern Rossinis.

 

Bei einer guten Besetzung geht es natürlich nicht nur um das Stimmfach, sondern auch um den jeweils passenden Rollen-Typ. Manchmal heißt das aber auch, dass man, um sein festangestelltes Ensemble kontinuierlich zu beschäftigen, nicht so typgerecht besetzen kann wie ein Opernhaus, das für jede Produktion Gastkünstler*innen zeitweise zusammenstellt.

 

The Turn of the Screw
Foto: Sandra Then

 

Als wir begannen, Brittens The Turn of the Screw zu besetzen, war sehr schnell klar, dass Sunnyboy Dladla unter unseren Ensembletenören für die Rolle des Peter Quint stimmlich und sprachlich am besten geeignet ist. Diese Partie ist für einen Tenor mit leichter Höhe, klarer Tongebung und besonderer Koloraturfähigkeit komponiert. Dass Englisch, die Originalsprache dieser Oper, die zweite Muttersprache von Sunnyboy Dladla ist, befähigt ihn zusätzlich.

 

Nun ist der Geist Peter Quint die unheimlichste Figur in diesem Stück, deshalb haben wir selbstverständlich auch darüber diskutiert, ob wir durch die Besetzung mit einem schwarzen Sänger rassistische Stereotype triggern. Zusammen mit dem Regisseur Immo Karaman haben wir uns aber entschieden, Sunnyboy diese Rolle anzutragen. Er ist bereits oft gefragt worden, diese Partie zu übernehmen – allerdings fühlte er sich bisher als Sänger noch nicht reif genug. Ihm aufgrund seiner Hautfarbe eine Rolle zu verwehren, für die er stimmlich und typmäßig besonders gut geeignet ist, ist nach unserem Verständnis auch eine Form von Rassismus, nämlich durch Ausschluss. Der Regisseur hat durch seine Konzeption, die in einer artifiziellen, abstrakten Schwarz-Weiß-Welt spielt, zudem eine auch ästhetisch überzeugende Lösung für alle Rollen, auch für die Geisterrolle Quint, gefunden.

 

Die Staatsoper Hannover versteht sich als eine lernende, sich weiterentwickelnde Einrichtung. Dies betriff auch und vor allem unsere Besetzungs- und Einstellungsverfahren, die wir mit Blick auf mögliche unbewusste diskriminierende Praktiken stets sehr kritisch reflektieren, hinterfragen und nachjustieren. Uns ist dabei wichtig, dass wir allen bei uns im Ensemble beschäftigten Künstler*innen und Sänger*innen die gleichen Besetzungschancen geben und niemanden von spannenden Rollen ausschließen. Unsere Besetzungsentscheidungen fällen wir in der Regel in einem intensiven Dialog mit den involvierten Sänger*innen, deren Wahrnehmungen und Bedürfnisse wir sehr ernst nehmen.

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